„Versöhnungstheater“?

„Versöhnungstheater“ – ein kritischer Blick auf Gedenkveranstaltungen (zur Reichspogromnacht)

Ein „Input“ von Werner Nienhüser[1]Die Ansichten des Verfassers geben nicht unbedingt die Meinung des gesamten Forums oder seiner Mehrheit wieder.

Seit vielen Jahren wird in Haltern am See mit einer öffentlichen Veranstaltung an die Reichspogromnacht erinnert. In der Halterner Zeitung vom 11.11.2022 (online nur gegen Bezahlung zugänglich) wurde die Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht kritisiert. Es handele sich um „Gedenktheater“. Im Folgenden wird der Hintergrund einer Diskussion dargestellt, die Gedenkveranstaltungen als „Versöhnungstheater“ (so lautet der Titel des Buches von Max Czollek  aus dem Jahr 2023) kritisiert. Das Versöhnungstheater weise eine bestimmte Dramaturgie auf: Zunächst werde in den Reden ein blutiges Drama beschrieben. Dann erkläre man, dass man dieses Drama heute überwunden hätte. Die Deutschen hätten genug getan, um das Unrecht wiedergutzumachen. Die Juden hätten sich mit den Deutschen versöhnt. Man schließe mit: Es darf nie wieder geschehen. Juden, so Czollek, würden in der Dramaturgie der Erinnerung zu Statisten gemacht. Zudem stärkten solche Aufführungen eine deutsche nationale Identität und böten eine Rechtfertigung dafür, wieder in Begriffen wie ‚deutsche Nation‘, ‚deutsche Führungsrolle‘ etc. zu denken.

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Seit vielen Jahren wird in Haltern am See mit einer öffentlichen Veranstaltung an die Reichspogromnacht erinnert. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden auch in Haltern Juden verhaftet, man drang in ihre Wohnungen ein, zertrümmerte das Mobiliar und setzte es in Brand. Die Synagoge an der Rekumer Straße und der jüdische Friedhof wurden stark beschädigt.[2]Das Forum Demokratie, Respekt und Vielfalt (https://forumdrv.de) hat in Fortsetzung der Arbeit des “Bündnis gegen Rechts” die Organisation der Kundgebung zum Gedenken an die Reichspogromnacht … Continue reading

„Gedenktheater“ in Haltern am See?

In der Halterner Zeitung vom 11.11.2022 (online nur gegen Bezahlung zugänglich) wurde die Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht kritisiert. Es handele sich um ein „Gedenktheater“. Angesichts der häufigen Angriffe auf Juden in Deutschland reiche es nicht, „dass man dieser Problematik mit Liebe begegnet. Es braucht Strukturen, scharfe Verurteilungen…“. Notwendig sei „eine Neuauflage des Gedenktheaters, die darauf abzielt, den Antisemitismus an jedem Tag im Jahr im Keim zu ersticken und keine Inszenierung, die lediglich dem schlechten Gewissen abhelfen soll.“

Der Beitrag in der Halterner Zeitung ist kurz und als „Meinung“ gekennzeichnet. Bei dieser Form sind Erläuterungen zum Begriff des „Gedenktheaters“ kaum möglich. Ohne Darstellung des Diskussionskontextes können solche Bezeichnungen missverstanden werden. Offensichtlich wird in dem Beitrag auf eine Diskussion Bezug genommen, die Gedenkveranstaltungen als „Gedächtnistheater“ (Bodemann 1996; die genauen Quellenangaben finden Sie jeweils am Endes dieses Web-Textes) oder als „Versöhnungstheater“ (Czollek 2023) kritisiert. Diese Kritik soll im Folgenden skizziert werden.

„Versöhnungstheater“ in Deutschland (und in Haltern am See)?

Besonders prägnant, man mag sagen: polemisch, wird die Kritik von Max Czollek (zu Informationen über den Autor siehe hier und hier) vorgetragen. Sein jüngstes Buch trägt den Titel „Versöhnungstheater“ (Czollek 2023). Hierin arbeitet er seine Kritikpunkte aus, die bereits in seinem Buch „Desintegriert Euch“ (2018) und in einem Aufsatz (2021) dargestellt wurden. Czollek schließt an Analysen des kanadischen Soziologen Y. Michal Bodemann (1996) an und führt die Kritik bezogen auf die heutige Situation weiter.

Das Versöhnungstheater (auch Gedächtnis-, Erinnerungstheater etc.) hat seiner Auffassung nach folgende Dramaturgie (ich fasse hier Czolleks – direkt an Bodemann anschließenden – Ausführungen zusammen): Zunächst wird in den Reden ein blutiges Drama beschrieben. Dann wird erklärt, dass man dieses Drama heute überwunden hätte. Die Deutschen hätten genug getan, um das Unrecht wiedergutzumachen und die Juden seien nun mit uns versöhnt. Man schließt mit: Es darf nie wieder geschehen. Diese Form der Erinnerung und die Unterstellung der Versöhnung, so Czollek, stärkten eine deutsche nationale Identität und böten eine Rechtfertigung dafür, wieder in – aus Czolleks Sicht problematischen, mit der Gefahr der Geschichtsvergessenheit verbundenen ‑ Begriffen wie ‚deutsche Nation‘, ‚deutsche Führungsrolle‘ etc. zu denken.

Juden würden in der Dramaturgie der Erinnerung zu Nebendarstellern, zu Statisten gemacht und ihre Rolle auf die der Opfer reduziert. Juden seien aber nicht nur Opfer gewesen, sondern hätten Widerstand geleistet, im Widerstand gekämpft. Auch die Bestrebungen von Juden, sich nach dem Krieg an den Deutschen massenhaft zu rächen, würden ignoriert. Es sei zudem eine Unterstellung, dass die Juden den Deutschen vergeben hätten – viele Juden seien nach wie vor unversöhnt. Czollek wertet die praktizierte Erinnerungskultur als symbolische Handlungen, als Ersatzhandlungen, denen keine oder zu wenig reale Handlungen entsprächen. Eine Wiedergutmachung sei kaum erfolgt; materielle Vorteile der Judenenteignung und -ermordung seien bis heute materielle Vorteile. Die ganz überwiegende Zahl der für die Ermordung der Juden Verantwortlichen blieb frei von Strafe. Rechter Terror werde immer noch verharmlost. Nach wie vor müssen Synagogen von der Polizei vor Angriffen geschützt werden, täglich werden Juden auf der Straße attackiert. Wie solle man da versöhnt sein?

Czollek kritisiert, dass die Aufführungen die Bildung einer deutschen Identität, eines deutschen Nationalstolzes stärkten. Diese Kritik findet sich auch bei Bodemann:

„Ich möchte deshalb behaupten, dass die gesamte Gedenkkultur um die Kristallnacht (Bodemann wählt diese Begriff bewusst; WN.) sehr wenig mit dem real existierenden Judentum zu tun hat, daß dieses Gedenken vielmehr als wichtiges Element in der neuen deutschen Identitätspolitik fungiert. Nationales Gedenken bildet nationale Identität. Die Kristallnacht bildet eine kritische Komponente im Rahmen der Neuformulierung deutscher Identität, wie sie am klarsten von Richard von Weizäcker propagiert wurde. Darüber hinaus hat dieses Gedenken zu tun mit Phantasien über Juden, mit Verlust und Schuld. Hierfür werden jüdische Dramen und jüdische Schauspieler benötigt – keine Hauptdarsteller freilich, sondern eher Statisten“ (Bodemann 1996: 99).

Czollek Überlegungen schließen direkt an:

„Angesichts dieser Situation muss die Gleichsetzung von Erinnerung und Versöhnung als das bezeichnet werden, was sie ist: Ausdruck der Bedürfnisse eines Teils dieser Gesellschaft, der sich seiner Handlungen schämt und wünscht, diese unangenehme Geschichte möge sich recht bald in Wohlgefallen auflösen. Die darin enthaltene Hoffnung auf die Normalisierung von Nationalhymne bis Heimat ist Teil dieser Wunschvorstellung. Das mag nachvollziehbar sein, es mag auch politisch opportun sein – aber es gilt eben nicht für alle Menschen, die in diesem Land leben. Und die untröstlich sind über das, was ihnen und ihren Familien angetan wurde. Und es bleiben werden. … es wird nie wieder alles gut“ (Czollek 2021: 10f.).

Alles wieder gut in Deutschland- oder: Was denken die Deutschen über den Nationalsozialismus?

Im Folgenden nenne ich einige Befunde aus einer repräsentativen Befragung zur „Haltung der Deutschen zum Nationalsozialismus“ aus dem Jahr 2020. Die Umfrage wurde von der Wochenzeitung „Die Zeit“ in Auftrag gegeben und erfasst die Haltungen von 1044 Deutschen ab 14 Jahren. Die Meinungen der Deutschen geben aus meiner Sicht Anlass zur Sorge, weil man diese nicht nur in einem kleinen, rechtsextremen Teil der Bevölkerung findet, sondern bei großen Teilen der Gesellschaft.

Haltung der Deutschen zum Nationalsozialismus

Alle Befragten

Zustimmung %*

Die Masse der Deutschen hatte keine Schuld, es waren nur einige Verbrecher, die den Krieg angezettelt und die Juden umgebracht haben. 53
Die Deutschen tragen nicht mehr Verantwortung für den Nationalsozialismus, für Diktatur, für Kriege und Verbrechen als andere Länder auch. 58
Meine Familie, meine Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern haben sich während der NS-Zeit keinerlei nationalsozialistische Verbrechen zu Schulden kommen lassen (Skala: stimme zu/stimme nicht zu/weiß nicht; hier %stimme zu) 64
75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sollten wir Deutsche einen Schlussstrich unter die Vergangenheit des Nationalsozialismus ziehen. 53
Die ständige Erinnerung an den Nationalsozialismus verhindert, dass die Deutschen ein gesundes Nationalbewusstsein entwickeln, wie Bürger anderer Länder auch. 56
Man kann seine Meinung über die NS-Vergangenheit in Deutschland nicht ehrlich sagen. 42
Ich habe den Eindruck, dass man, wann immer von den Verbrechen des Nationalsozialismus die Rede ist, Betroffenheit zeigen muss, und das nervt mich. 49
Wegen der Geschichte des Nationalsozialismus können wir Deutschen nicht mehr offen über bestimmte Themen diskutieren. 54
Die Zeit des Nationalsozialismus wird viel zu einseitig und negativ dargestellt – sie hatte auch ihre guten Seiten. 22
Eigene Berechnungen auf Basis der Auswertungen der Studie.
*  Die Skala ist bei nahezu allen Statements  „stimme voll und ganz zu – stimme eher zu – stimme eher nicht zu – stimme gar nicht zu“. In der Tabelle hier sind „Stimme voll und ganz zu“ und „stimme eher zu“ zusammengefasst.

Ein großer Anteil der Befragten meint also, dass nur einige wenige Verbrecher an der organisierten massenhaften Ermordung von Juden Schuld sind. Zwei Drittel glauben, dass Mitglieder der eigenen Familie mit nationalsozialistischen Verbrechen nichts zu tun gehabt hätte. Mehr als die Hälfte meint, die Deutschen trügen nicht mehr Verantwortung für den Nationalsozialismus und dessen Verbrechen als andere Länder auch. Man müsse einen „Schlussstrich unter die Vergangenheit des Nationalsozialismus“ ziehen. Knapp die Hälfte der Deutschen sagt, „man kann seine Meinung über die NS-Vergangenheit in Deutschland nicht ehrlich sagen“ (es wäre interessant zu wissen, wie denn „die ehrliche Meinung“ ausfiele) und ist genervt davon, bei der Rede über die Verbrechen des Nationalsozialismus Betroffenheit zeigen zu müssen. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus verhindere, dass „die Deutschen ein gesundes Nationalbewusstsein entwickeln“, hier stimmen 56 Prozent zu. Mehr als jeder Fünfte (22 Prozent) meint, der Nationalsozialismus habe auch gute Seiten gehabt. Unter denjenigen mit einer Parteipräferenz für die AfD teilen sogar 58 Prozent diese Auffassung.

Wenn ein großer Teil der Bevölkerung solche Einstellungen hat, wundert es mich nicht, wenn Juden in Deutschland (vor Deutschland) Angst haben.

Was folgt aus diesen Überlegungen für die – auch aus Czolleks Sicht keineswegs überflüssigen, sondern nötigen – Gedenkveranstaltungen? Diese Frage bleibt hier und auch bei Bodemann, Czollek und anderen Kritikern offen.

Weitere Informationen / Literatur

Bodemann, Y. Michal (1996): Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung. Hamburg: Rotbuch-Verlag.

Czollek, Max (2023): Versöhnungstheater. München: Hanser.

Eine Zusammenfassung der wesentlichen Argumente seines Buches formuliert Czollek hier: Czollek, Max (2021): Versöhnungstheater. Anmerkungen zur deutschen Erinnerungskultur. In: Bundeszentrale für politische Bildung. Online verfügbar unter https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/juedischesleben/332617/versoehnungstheater-anmerkungen-zur-deutschen-erinnerungskultur.

Das Fernsehmagazin „Titel – Thesen – Temperamente (ttt)“ sendete am 5.2.2023 einen Beitrag über das Buch Czollek: Max Czollek über einseitige deutsche Erinnerungskultur. Online verfügbar unter https://www.ardmediathek.de/video/ttt-titel-thesen-temperamente/max-czollek-ueber-einseitige-deutsche-erinnerungskultur/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3R0dCAtIHRpdGVsIHRoZXNlbiB0ZW1wZXJhbWVudGUvNjg5ODg1YTctNmZlMy00YjllLWI3OTQtYTUwNGY3MzcyY2Ex

Eine – von vielen – Rezensionen des Buches von Czollek findet man hier: Seibel, Patric (2023): „Versöhnungstheater“: Wie ehrlich ist die deutsche Erinnerungskultur? Online verfügbar unter https://www.ndr.de/kultur/buch/Versoehnungstheater-Wie-ehrlich-ist-die-deutsche-Erinnerungskultur,versoehnungstheater100.html.

Zur Person von Max Czollek: https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Czollek

Czollek, Max (2018): Desintegriert euch! 3. Auflage. München: Carl Hanser Verlag.

pmg – policy matters – Gesellschaft für Politikforschung und Politikberatung mbH (2020): Die Haltung der Deutschen zum Nationalsozialismus. Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung. Im Auftrag von „Die Zeit“. Online verfügbar unter https://www.zeit.de/2020/19/zeit-umfrage-erinnerungskultur.pdf.

Wachter, Jennifer (2022): Das alljährliche Gedenktheater in Haltern. Wo bleibt der konstruktive Inhalt? In: Halterner Zeitung, 11.11.2022. Online (nicht kostenlos) verfügbar unter https://www.halternerzeitung.de/haltern/gedenkveranstaltung-2022-haltern-novemberpogrome-erinnerungskultur-meinung-w1810047-p-3000649254.

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Anmerkungen

Anmerkungen
1 Die Ansichten des Verfassers geben nicht unbedingt die Meinung des gesamten Forums oder seiner Mehrheit wieder.
2 Das Forum Demokratie, Respekt und Vielfalt (https://forumdrv.de) hat in Fortsetzung der Arbeit des “Bündnis gegen Rechts” die Organisation der Kundgebung zum Gedenken an die Reichspogromnacht übernommen.