Foto1941

Ein Foto

(von Werner Nienhüser)[1]Die Ansichten des Verfassers geben nicht unbedingt die Meinung des gesamten Forums oder seiner Mehrheit wieder.

Das Foto stammt vermutlich aus der “National-Zeitung” vom 03.04.1941 (siehe H.-G. Schneider, G. Nockemann, B. Brilling: Die Geschichte der Juden in Haltern, Haltern 1982, S. 56). Das hier gezeigte Bild basiert auf einer Fotografie einer Kopie des Artikels im Stadtarchiv Haltern am See.

Um das Foto und seine Geschichte in Erinnerung zu rufen, hat das Forum für Demokratie, Respekt und Vielfalt eine Postkarte erstellt, die auf Veranstaltungen verteilt wird, etwa zum Gedenken an die Pogrome am 8. und 9.11.1938 herum. Der folgende Artikel skizziert die Hintergründe und stellt Fragen.

Das Foto zeigt die öffentliche Demütigung eines jüdischen Bürgers und seines Helfers in Haltern 1941.

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Artikel 3 des Grundgesetzes enthält eine Forderung, die uns heute selbstverständlich erscheint. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde dieser Grundsatz willentlich missachtet. Jüdische Bürger:innen wurden gesetzlich diskriminiert, im Alltag gedemütigt und systematisch ermordet. Das Foto stammt aus einem Zeitungsartikel der NSDAP-Presse (Text aus der Nationalzeitung 3.4.1941, zitiert nach SchneiderNockemann)[2]Das Foto ist – zusammen mit einem Text – Teil eines Artikels in der “National-Zeitung” vom 03.04.1941. 1982 wurde das Foto zusammen mit dem Text des Zeitungsartikels in … Continue reading. Es zeigt wie im Brennglas eine der zahlreichen von den Nationalsozialisten eingesetzten Instrumente der Judenverfolgung – die öffentliche Demütigung von Juden und ihren Unterstützern.

Haltern, am 31.3.1941: Gnadenlos werden zwei Menschen – Johann Unterberg und Hermann Cohn – durch Haltern getrieben und öffentlich gedemütigt. Ihr “Vergehen” wird symbolisch sichtbar gemacht. Hermann Cohn trägt ein Schild mit der Aufschrift „Diese Eier waren für den Juden Cohn bestimmt!“; Johann Unterberg trägt einen Korb mit Eiern.[3]Den Erinnerungen von Hans Kallhoff zufolge habe auf dem Schild – möglicherweise auf der Rückseite – gestanden: „Ein Volksverräter schenkt Eier an Juden“. Quelle: Kallhoff, Hans, … Continue reading Was hatten sie getan? Dem Bericht der Nazi-Zeitung zufolge hatte Johann Unterberg seinem Freund Hermann Cohn Eier gegeben. Juden durfte man aber keine Lebensmittel geben, und Juden durften sie nicht annehmen.[4]Siehe dazu die Kriegswirtschaftsverordnung vom 4. September 1939, insb. § 1 (1): „Wer Rohstoffe oder Erzeugnisse, die zum lebenswichtigen Bedarf der Bevölkerung gehören, vernichtet, … Continue reading Die Polizei hatte Unterberg und Cohn in Haft genommen; die öffentliche Zurschaustellung ihrer mutmaßlichen Straftat wurde vermutlich von der SS und SA veranlasst. Hermann Cohn wurde Anfang 1942 von der Gestapo verhaftet und auf einen Sammeltransport ins Konzentrationslager geschickt. Er kam dort nicht an. (Am 26.2.2005 wurde für Hermann Cohn in Haltern ein Stolperstein verlegt; siehe auch https://forumdrv.de/stolpersteineplakat.) Über das weitere Schicksal von Johann Unterberg, ob und wie er von den Nazis bestraft wurde, darüber ist bisher nichts bekannt. 2022 ist vom Rat der Stadt Haltern entschieden worden, einen Weg in Sythen nach Johann Unterberg zu benennen.[5]Der Klima-, Umwelt- und Mobilitätsausschuss fasste am 20.9.2022 einstimmig den Beschluss, einen Weg in Sythen als „Johann-Unterberg-Weg“ zu benennen.( TOP 9: DS-Nr.: 22/105 Widmung des … Continue reading

Was zeigt das Foto, was zeigt es nicht?

Das Foto ist frontal aufgenommen. Der Demütigungsumzug hält für die Aufnahme an. Die Beteiligten stellen sich für den Fotografen auf. Alle schauen in die Kamera. Mindestens drei Uniformierte sind beteiligt, SS- und SA-Leute den Uniformen zufolge. Auch andere Menschen sind dabei.

Zu fragen ist:

  • Wer sind die Menschen auf dem Bild?
  • Stammen die beteiligten Nationalsozialisten aus Haltern? Kennen wir ihre Namen? Was wurde aus ihnen? Gab es Entnazifizierungsverfahren?
  • Wie verhielten sich Behörden und Polizei? Die „Maßnahme“ der öffentliche Demütigung war meiner Einschätzung nach nicht durch Gesetze oder Verordnungen gedeckt, sondern ein reiner Willkürakt. Hätten Polizei und Gerichte dieser Willkür nicht widersprechen können?[6]Gerichts- oder Polizeiakten konnte ich zumindest bisher nicht ausfindig machen. Im Stadtarchiv Haltern gibt es keine Dokumente.
  • Wer war der Fotograf? Handelte er im Auftrag der Nazis? Immerhin war er vorbereitet. Er hatte eine Kamera dabei. Gibt es noch ein Original des Fotos oder ein Negativ?
  • Auch Mitbürger, Halterner vermutlich, Erwachsene wie Kinder, zeigt das Foto. Sie sahen zu, sie gingen mit. Wie reagierten die Bürgerinnen und Bürger in Haltern? Vielleicht missbilligten viele Halterner diese menschenverachtende Aktion? Waren die Straßen leer, als Johann Unterberg und Hermann Cohn durch die Stadt getrieben wurden? Wurden Menschen aufgefordert, gar gezwungen, zuzusehen oder sich aktiv zu beteiligen? Gab es Zustimmung, aktives Mitmachen gar? Oder beteiligte sich niemand mit spöttischen Rufen oder gar tätlichen Angriffen? Sprach man über das Ereignis während der nationalsozialistischen Herrschaft? Sprach man darüber nach dem Ende des Regimes? Sind solche Ereignisse individuell verdrängt worden und damit auch nicht im kollektiven Gedächtnis gespeichert?
  • Gab es weitere Fotos von der öffentlichen Demütigung? Sind diese Fotos ggf. noch in Privatarchiven erhalten?
  • Wer schrieb den Zeitungsartikel?

Antworten auf die hier gestellten Fragen gibt es kaum. Weitere Fragen sind notwendig.

Schneider und Nockemann kommt das Verdienst zu, mit ihrem Buch nach rund 40 Jahren auf den Vorfall hingewiesen zu haben. Viele sich anschließende und notwendige Fragen bleiben aber offen. Vielleicht, weil sie nicht gestellt wurden. Die Postkarte soll zu Fragen und zur Suche nach Antworten anregen.

Schweigende Missbilligung und ein heute oft geäußertes, sich selbst beruhigendes, immer viel Zustimmung findendes „Nie wieder“ reichen nicht aus. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Wer Menschen etwa danach diskriminiert, ob sie der „deutschen Kultur“ zugerechnet werden, wer Menschen ihr individuelles Recht auf Asyl aberkennen will, wendet sich von der Forderung des Artikels 3 GG ab. Aktiver Widerstand ist nötig gegen alle Bestrebungen, Menschenrechte einzuschränken. Das ist leicht gesagt. Widerstand muss geübt werden. – Seit dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel bekommt dieser Satz nochmals eine stärkere, aktuelle Bedeutung.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Die Ansichten des Verfassers geben nicht unbedingt die Meinung des gesamten Forums oder seiner Mehrheit wieder.
2 Das Foto ist – zusammen mit einem Text – Teil eines Artikels in der “National-Zeitung” vom 03.04.1941. 1982 wurde das Foto zusammen mit dem Text des Zeitungsartikels in “Hans-Günther Schneider, Georg Nockemann, Bernhard Brilling: Die Geschichte der Juden in Haltern, Haltern 1982, S. 56) veröffentlicht. Der Text findet sich dort auf Seite 59 und 60 zitiert. Im Internet kann man das Foto mit Artikeltext hier finden. Allerdings konnte ich bisher den Original-Artikel in der National-Zeitung auch nach umfangreichen Suchen in mehreren Stadtarchiven nicht finden. Im Stadtarchiv Haltern ist lediglich eine Kopie des Fotos als Ausschnitt aus dem Artikel verfügbar, nicht aber der gesamte Zeitungsbeitrag. Das hier gezeigte Bild habe ich von einer Fotografie angefertigt, die ich mit Erlaubnis des Stadtarchivars Gregor Husmann von der Artikelkopie machen durfte.
3 Den Erinnerungen von Hans Kallhoff zufolge habe auf dem Schild – möglicherweise auf der Rückseite – gestanden: „Ein Volksverräter schenkt Eier an Juden“. Quelle: Kallhoff, Hans, Erinnerungen an die Zeit der Judenverfolgung im Dritten Reich, persönliches Schreiben vom 29.10.2015 an den Bürgermeister der Stadt Haltern, Stadtarchiv Haltern am See (ich danke Herrn Gregor Husmann, Stadtarchivar in Haltern, mir diesem Brief zugänglich gemacht zu haben).
4 Siehe dazu die Kriegswirtschaftsverordnung vom 4. September 1939, insb. § 1 (1): „Wer Rohstoffe oder Erzeugnisse, die zum lebenswichtigen Bedarf der Bevölkerung gehören, vernichtet, beiseiteschafft oder zurückhält und dadurch böswillig die Deckung dieses Bedarfs gefährdet, wird mit Zuchthaus oder Gefängnis bestraft. In besonders schweren Fällen kann auf Todesstrafe erkannt werden.“ (https://de.wikisource.org/wiki/Kriegswirtschaftsverordnung).
5 Der Klima-, Umwelt- und Mobilitätsausschuss fasste am 20.9.2022 einstimmig den Beschluss, einen Weg in Sythen als „Johann-Unterberg-Weg“ zu benennen.( TOP 9: DS-Nr.: 22/105 Widmung des “Johann-Unterberg-Weg” im Ortsteil Sythen).
6 Gerichts- oder Polizeiakten konnte ich zumindest bisher nicht ausfindig machen. Im Stadtarchiv Haltern gibt es keine Dokumente.