„Ein Kasten Bier erscheint nicht auf der Türschwelle, weil man auf eine App getippt hat …“
Experten nahmen Arbeitsbedingungen in Lieferdienste und Online-Handel unter die Lupe
Haltern am See. „Könnten Essens-Lieferdienste nicht als Genossenschaften, die den Beschäftigten gehören, organisiert werden?“ Werner Nienhüsers Abschlussfrage eines eindrücklichen Abends über die Arbeitsbedingungen von Frauen und Männer in Lieferdiensten und Online-Kaufhäusern zeigt eines deutlich: Mit Kritik allein ist es bei der Frage nach unwürdigen Arbeitsverhältnissen nicht getan. Dennoch: Schlechte, unwürdige Arbeitsbedingungen müssen „skandalisiert und öffentlich gemacht werden“, wie Karsten Rupprecht von der Gewerkschaft verdi aus Dortmund sagt. Die Empörung der Bevölkerung wuchs, als die schlechten Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie nicht mehr zu ignorieren waren. Nun müssen die anderen Branchen wie die vor allem seit Corona stetig wachsenden Branchen der Lieferdienste und Online-Handelsunternehmen in den Blick genommen werden.
Genau das tat die Online-Gesprächsrunde „Click and buy“, zu der das Halterner Forum für Demokratie, Respekt und Vielfalt, die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) und die Bildungsstätte KönzgenHaus im Rahmen ihrer Veranstaltungsreihe „(Un-)Würdige Arbeit“ eingeladen hatte.
Sie liefern Pizza, bringen Heckenscheren und fahren stilles Wasser aus … die Lieferdienste und Online-Händler auf den Straßen Deutschlands. Über eine halbe Million Menschen in Deutschland arbeiten inzwischen bei Lieferdiensten wie Lieferando und Flaschenpost und Unternehmen wie dem Online-Riesen Amazon. Für weniger Geld als in anderen Branchen, mit vielen „geringfügig Beschäftigten“ und fast ein Drittel aller Arbeitnehmer*innen bekommt Lohn ohne Sozialversicherung, so Professor Dr. Werner Nienhüser bei seiner Einführung.
Lennart Vogt ist Student und kennt die Arbeitsbedingungen aus eigener Erfahrung – fast ein Jahr lang war er Fahrer bei einem bekannten Getränkelieferdienst. Wie die Arbeitnehmer*innen beim Online-Kaufhaus Amazon erlebte auch er, dass sein Arbeitswerkzeug – das Smartphone und die Bestell-App – ein Instrument der Kontrolle über die Fahrer sind. Das GPS sicherte, dass, so Vogt, „der Kunde weiß, wo der Fahrer ist und der Lagerist weiß es auch.“ Eine Art gläserner Mitarbeiter. Gleichzeitig, so Vogt, war er für das Unternehmen nicht mehr als eine „simple Nummer“ statt eines wertvollen Menschen. Das entfremde von der Arbeit, ließ Motivation und Zufriedenheit deutlich sinken. Von einem Betriebsrat hatte er in seiner Zeit der Betriebszughörigkeit nie etwas gehört, auch nicht, wenn er am Standort Getränke-Kästen lud oder andere Fahrer traf.
Die Frage von guten oder schlechten Arbeitsbedingungen allein an der Existenz eines Betriebsrates fest zu machen, davor warnt Karsten Rupprecht, verdi-Gewerkschaftssekretär im nördlichen Ruhrgebiet. „Arbeitgeber-Betriebsräte“, nennt er jene Räte, in denen fast ausschließlich Manager des Unternehmens sitzen – jene Mitarbeiter mit unbefristeten Verträgen – weil sich aus der Belegschaft – meist mit befristeten Verträgen ausgestattet – keine*r sich wählen lassen wollte aus Sorge um den eigenen Arbeitsplatz.
Überhaupt sei, so Rupprecht, die unnötige Befristung von Arbeitsverträgen, ein Grundübel in der Arbeitswelt. Dabei ginge es ihm nicht um Befristung, die dem Unternehmen hilft, zeitlich begrenztes hohes Arbeitsaufkommen abzufedern, sondern um den dauerhaften Missbrauch dieses arbeitspolitischen Instruments. „Wer befristet ist und darauf hofft, irgendwann einen unbefristeten Vertrag zu erhalten, der läuft schneller als er laufen muss, der packt die Pakete noch flotter, der lässt Pausen auch mal aus und schleppt sich auch mit einer Grippe zur Arbeit“, schildert Rupprecht die Auswirkungen auf den Arbeitsalltag. „Das macht Menschen krank“, sagt er deutlich.
Für Heiner Heiland von der Technischen Universität Darmstadt, sind solche Verhältnisse vergleichbar mit „frühkapitalistischen Arbeitsbedingungen“: Der Mensch zählt wenig. Der Profit alles. Der Soziologe untersucht, wie die Digitalisierung die Arbeit verändert. Dazu hat er selbst als Fahrradkurier für Online-Plattformen gejobbt. Heiland stellt eine „ausgeprägte Fragmentierung“ fest. Frage man Mitarbeiter*innen bei Plattformen, warum sie dort arbeiten und was sie wünschen, bekäme man scheinbar gegensätzliche Antworten – die einen wünschen möglichst viel Flexibilität im Arbeitsalltag, die anderen feste Zeiten und Beständigkeit. Die Beschäftigten haben wenig Kontakt untereinander, arbeiten oder „jobben“ aus sehr unterschiedlichen Gründen beim Dienstleister und kommen obendrein aus sehr unterschiedlichen Lebensverhältnissen – das seien spezifische Merkmale der Plattformarbeit, die die Durchsetzung der Arbeitnehmerinteressen in vielen Fällen erschweren.
Was nun tun? – fragte Moderatorin Ortrud Harhues vom KAB-Bildungswerk in die Runde.
„Menschen brauchen sichere Jobs, keine Zukunftsängste“, sagt Karsten Rupprecht, deshalb müsse die Politik dem Missbrauch von befristeten Arbeitsverträgen ein Ende setzen. Er warnt vor Boykott-Aufrufen. Die seien für die Beschäftigten keine Lösung. Gewerkschaften, Sozialverbände und Kunden*innen müssen beharrlich und laut gute Löhne und gute Arbeit einfordern. Mit Blick auf den, so Rupprecht, „ruinösen Wettbewerb im Handel“, fordert er die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge des Einzel- und Versandhandels in NRW.“ Dann würde der Wettbewerb zwischen Läden vor Ort und dem Online-Handel nicht weiter auf den Schultern der Beschäftigten ausgetragen werden, sondern „in den Regalen“.
Auf die Macht des Konsumenten und Kunden hofft Ex-Lieferdienst-Fahrer Lennart Vogt. Von den Kunden wünscht er sich, dass sie sich mehr informieren, wer hinter ihrer Lieferung steht. „Ein Kasten Bier erscheint nicht plötzlich auf der Türschwelle, nur, weil man auf eine App getippt hat“, beschreibt Vogt, „sondern, weil ein Mensch den Kasten einlädt, umherfährt, auslädt, die Treppe hochschleppt und übergibt. Keine Nummer, sondern ein Arbeitnehmer, der Respekt verdient – vom Unternehmen und vom Kunden.“
Beschäftigte der Plattformen stünden ihren Arbeitsbedingungen nicht ohnmächtig gegenüber, betont Heiner Heiland. Sie können die digitalen Technologien auch für den eigenen Austausch unter Kollegen*innen und die eigene Organisation nutzen. Es gäbe inzwischen viele digital vernetzte „Fahrergruppen“, die sich über ihre Arbeit, über Missstände vor Ort und über mögliche Gegen-Schritte verständigen.
Und um die „Auspressung von Profit und die in der Betriebswirtschaftslehre weit verbreitete Idee eines Unternehmens ohne Mitarbeiter“ zu beenden, gäbe es, nach Werner Nienhüser, ja noch die Idee mit der Genossenschaft. Stoff für viele weitere spannende Gesprächsrunden.
Text: Heike Honauer | Screenshot: Werner Nienhüser | 19.04.2021
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