Überlegungen zu Aufrufen zur Desertion und zur Unterstützung von Deserteur:innen
Werner Nienhüser
Der folgende Beitrag bezieht sich auf den auch hier auf dieser Webseite veröffentlichten Aufruf von Connection e.V. Siehe dazu auch den Kommentar von Bernhard Damm.
Russischen Deserteuren soll in Deutschland und der gesamten EU Asyl gewährt werden
Alle Parteien und die Bundesregierung scheinen sich weitgehend einig zu sein: Russischen Staatsbürger:innen, die sich dem Kriegsdienst entziehen, sollte in Deutschland Asyl gewährt werden..
„Bund offen für russische Deserteure“ – so titelt die Tagesschau vom 23.9.22.
„Die Bundesregierung zeigt sich offen für die Aufnahme von Russen, die nach der Teilmobilmachung das Land verlassen wollen. Dass sich viele Russen nicht an dem Krieg gegen die Ukraine beteiligen wollten, sei ein gutes Zeichen, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit. … Die Koalitionspartner FDP und Grüne hatten die Regierung nach Putins Ankündigung aufgefordert, russische Deserteure aufzunehmen – Unterstützung dafür kommt aus fast allen Fraktionen.”
Man könnte dies so interpretieren, dass man die Desertion russischer Soldat:innen positiv bewertet, weil sie der Ukraine hilft. Aber wäre es für die Ukraine nicht besser, die Soldat:innen der russischen Armee in Russland würden in ihrem Land bleiben und mit ihren Waffen gegen Putin kämpften? Das ist die Position des noch amtierenden ukrainischen Botschafters in Deutschland, Andrij Melnyk:
„Falscher Ansatz! Sorry. Junge Russen, die nicht in den Krieg ziehen wollen, müssen Putin und sein rassistisches Regime endlich stürzen, anstatt abzuhauen und im Westen Dolce Vita zu genießen.“ Zitiert nach
Tagesschau vom 23.9.22.
Russen und Ukrainer – Kriegsdienstverweigerer jeder Nation sollten aufgenommen werden
Die Organisation Connection, ein eingetragener Verein, der sich international für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure einsetzt, sammelt Unterschriften in einer Kampagne für die Unterstützung derjenigen, die sich dem Militärdienst entziehen . Die Forderungen gelten für russische wie ukrainische Menschen. Mehr oder weniger direkt wird zur Desertion aufgerufen:
Unterstützt wird die Aktion u.a. von Pax Christi (https://www.connection-ev.org/pdfs/2022-06-09_appealEurope-de.pdf).
Rechtslage: Desertion und Aufruf zu Desertion sind strafbar
In der Ukraine dürfen Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren das Land nicht verlassen, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist sehr begrenzt und schwer durchzusetzen, Desertion und Fahnenflucht sind strafbar, in Gefechtssituationen darf der Vorgesetzte Gehorsamsverweigerer und Deserteure erschießen (https://www.proasyl.de/hintergrund/kriegsdienstverweigerung-und-desertion-belarus-russische-foederation-und-ukraine).
In Deutschland ist Fahnenflucht strafbar (Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren, § 16 und § 20 Wehrstrafgesetz). Wer zu einer Straftat aufruft oder anstiftet, macht sich ebenfalls strafbar (§ 111 Strafgesetzbuch). Wer also Bundeswehrsoldat:innen zur Fahnenflucht oder Desertion aufriefe, würde zumindest das Risiko einer Bestrafung bis hin zur einer Gefängnisstrafe eingehen.
Welche Position nehmen wir ein?
Vereinfachend kann man zwischen zwei Positionen unterscheiden (die des ukrainischen Botschafters will ich nicht abtun, aber doch ausklammern; ich will auch nicht ausschließen, dass es weitere Positionen gibt):
Position 1: partikularistisch oder parteilich-differenzierend. Die erste Position kann man als partikularistisch oder auch parteilich-differenzierend benennen. Sie unterscheidet zwischen gerechtfertigten und nicht gerechtfertigten Kriegen und entsprechend zwischen positiv und negativ zu sanktionierenden Deserteuren. Deserteure einer Kriegspartei, die einen als ungerechtfertigten angesehenen Krieg führt, sind zu unterstützen, über Asylgewährung, über den Aufbau von Fluchtwegen usf. Soldaten, die dagegen an einem als gerechtfertigt angesehenen Krieg teilnehmen (sollen) und dies verweigern, sind zu bestrafen. Eine Rekonstruktion der gegenwärtigen Debatte in „der Politik“ dürfte ein Bild ergeben, das dieser Position zumindest sehr ähnlich ist. Russische Deserteure wären dann deswegen willkommen, weil sie durch die Desertion der Ukraine helfen, den gerechtfertigten Verteidigungskampf zu führen. Dann könnte man auch unterscheiden zwischen russischen und ukrainischen Deserteuren. Zudem wäre mit dieser Position vereinbar (oder es wäre sogar zu fordern), dass Desertion von der Bundeswehr und der Aufruf dazu Straftatbestände sind – zumindest für einen Verteidigungsfall.
Position 2: universalistisch und nicht differenzierend. Eine zweite Position wird von Connection und anderen pazifistisch orientierten Organisationen vertreten. Sie ist universalistisch, d.h. für alle Menschen geltend, und unterscheidet bei dem universalistischen Recht auf Verweigerung des Dienstes mit der Waffe nicht zwischen unterschiedlich bewerteten Kriegen. Jeder Mensch muss das Recht haben, nicht zu kämpfen und keinen Waffendienst zu leisten. Das muss auch im Kriegsfalle gelten, unabhängig davon, ob es sich um einen Verteidigungs- oder Angriffskrieg, um einen gerechtfertigten oder ungerechtfertigten Krieg handelt. Das würde bedeuten, dieses Recht müsste nicht nur für russische, sondern auch für ukrainische Verweigerer und Deserteure gelten. Auch für Bundeswehrsoldat:innen müsste man das Recht auf Verweigerung und Desertion fordern.
Welche Position nimmt jeder von uns ein? Ist es nicht sinnvoll, wie bei der differenzierenden Position 1 zwischen guten und schlechten Kriegen zu unterscheiden und daran das Recht zu knüpfen, sich dem Waffendienst zu entziehen? Oder ist Position 2 sinnvoll: Menschen jeder Nation das Recht zu gewähren, sich dem Dienst mit einer Waffe zu entziehen, sie nicht dafür zu bestrafen, dass sie nicht kämpfen wollen. Zugleich müsste Position 2 beinhalten, Gehorsamsverweigerung, Fahnenflucht oder Desertion auch für deutsche Staatsbürger Deutschland straffrei zu machen.
Ich habe derzeit keine Antwort, welche Position richtig ist; ich weiß nicht einmal, welcher ich zuneige.
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